Multiple Sklerose: Immer mehr Patienten leben ohne Behinderungen
Knapp 17 Jahre nach der Erstdiagnose sind fast 90 % der Patienten mit Multipler Sklerose (MS) noch ohne Hilfe gehfähig. Diese Zahlen einer aktuellen US-amerikanischen Studie beschreiben die Fortschritte beim Langzeitverlauf der MS. Ohne Therapie wären nach vergleichbaren epidemiologischen Studien in dieser Zeit nur etwa 50 % ohne Gehhilfe oder einen Rollstuhl ausgekommen. Die MS-Therapie hat sich somit rasant entwickelt, es fällt jedoch schwer, diesen Fortschritt zu beziffern. Die Studie bringt nun etwas mehr Licht ins Dunkel.
„Die aktuellen Zahlen stammen zwar nur aus einem einzigen Zentrum, deshalb muss man sie mit Vorsicht interpretieren. Sie zeigen aber, dass wir bei der MS auf einem guten Weg sind und unseren Patienten heute eine Vielzahl Therapien anbieten können, die ihre Selbstständigkeit und Lebensqualität lange erhalten“, sagt Prof. Heinz Wiendl von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN).
„Die Studie macht aber auch deutlich, dass die MS-Forschung noch lange nicht am Ziel ist. Wir können noch nicht allen Patienten schwere Einschränkungen ersparen und haben noch keine guten individuellen Vorhersagemöglichkeiten für den Verlauf und das Ansprechen auf die Therapie.“
Langzeitdaten brauchen ihre Zeit
Weltweit leben etwa zwei Millionen Menschen mit Multipler Sklerose. In Deutschland wird die Zahl auf mehr als 200.000 geschätzt. Die entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems, ausgelöst durch eine Fehlsteuerung des Immunsystems, führt zu Seh- und Gleichgewichtsstörungen, Lähmungen, Schmerzen, Müdigkeit und Konzentrationsschwäche. MS ist trotz intensiver Forschung noch nicht heilbar, es gibt heute jedoch eine Reihe von Medikamenten, die die Erkrankungsaktivität abmildern oder gar kontrollieren können.
Um besser zu verstehen, inwieweit heutige Standardmedikamente auf lange Sicht Behinderungen reduzieren, hat ein Forscherteam um Stephen L. Hauser von der University of California in San Francisco nun Daten von 517 Patienten ausgewertet, die bis zu zehn Jahre begleitet wurden. Es zeigte sich, dass der Grad der Einschränkung bei 41 % der Studienteilnehmer unter einer Therapie mit Interferon beta und nötigenfalls hochpotenten Wirkstoffen wie Natalizumab und Rituximab stabil blieb oder sich sogar verbesserte. Lediglich 10,7 % der Patienten (Behinderungsgrad ab EDSS 6) benötigten Gehhilfen oder einen Rollstuhl. Unbehandelt, erleiden etwa 50 Prozent im selben Zeitraum ähnlich schwere Behinderungen, wie frühere Studien gezeigt haben.
Lediglich 18,1 % der Patienten, die anfangs mit der schubförmigen Form der MS (RRMS) diagnostiziert wurden, entwickelten eine fortschreitende (sekundär progrediente) MS (SPMS). Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die Behinderungen und Läsionen im Gehirn der Patienten zwischen den Schüben kaum noch zurückbilden.
„Obwohl es den Kollegen aus San Francisco gelungen ist, den Krankheitsverlauf abzumildern, erlitten über die Zeit 59 % der Studienteilnehmer eine klinisch signifikante Behinderung. Das illustriert den anhaltenden Bedarf an effektiveren krankheitsmodifizierenden Therapien für die schubförmige MS und generell für effektive Therapien gegen die progrediente MS“, betont Wiendl.
Überraschenderweise stellten die Forscher zudem fest, dass Patienten, bei denen in den ersten zwei Jahren per MRT (Kernspintomografie) keine Krankheitsaktivität nachweisbar war, langfristig nicht besser abschnitten als die Gruppe insgesamt. Umgekehrt ließ sich von im MRT festgestellten Hirnläsionen nicht auf einen schlechteren Krankheitsverlauf schließen. Somit steht auch die Diagnostik auf dem Prüfstand.
Quelle: http://www.dgn.org
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